
Da ist wieder diese Hilflosigkeit. Ich mag die Städtenamen gar nicht alle aufzählen, die uns in den letzten Tagen und Wochen geprägt haben. Sie stehen für unfassbare Taten, viel Blut und einer bleibenden Gewissheit: In Extremsituationen haben wir den Umgang mit sozialen Netzwerken noch nicht gelernt.
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„Ich gehe jetzt schnell einen Burger essen, bevor noch was passiert“, sagte gestern Nachmittag ein Kollege, der nach seiner Frühschicht etwas blasser um die Nase als sonst sich in den überfälligen Feierabend verabschiedete. Ich war abends just zu Hause, als ich den Tweet des BR rund um eine mögliche Schießerei in München las. Ich sagte den Kollegen am Newsdesk bescheid und nach fünf Minuten wurde klar: Das Thema wird uns länger beschäftigen. Ich fuhr zurück in die Redaktion und wir waren bis tief in die Nacht beschäftigt, bis eine Nachtschicht übernahm. Doch nach Schlafen war mir dann noch nicht zu Mute. Die Umstände des Attentats von München waren noch nicht geklärt, da gab es schon wieder diesen nervenaufreibenden Unmut im Netz. Aus den unterschiedlichsten Gründen.
Auf die Diskussion, wie Medien berichten, lasse ich mich nicht ein: Sendet ein Sender nichts, muss er sich vorwerfen lassen, normales Programm zu senden. Stellt ein Sender auf ein Sonderprogramm um, muss er sich vorwerfen lassen, sich ständig zu wiederholen und nur zu spekulieren. Über die Grenzen des Nachrichtenfernsehens hat Stefan Niggemeier vor ein paar Tagen etwas hervorragendes geschrieben. Dann diese ganzen Vorverurteilungen. Dann die ganzen Bilder, die hysterisch geteilt werden. Sei es öffentlich auf Facebook oder Twitter, oder auch privat per Mail oder WhatApp. Der Freund, vom Freund lässt grüßen. Nicht nur nach den letzten Attentaten, sondern auch in den Stunden nach München haben ungewöhnlich viele junge Kollegen, sie sonst blühende social-media Enthusiasten sind, über eine geistige Erschöpfung geklagt. Sie wollen nicht mehr. Irgendwann wird zu viel, zu viel.
In den letzten Monaten habe ich mich viel mit Periscope, Facebook Live und anderen Diensten beschäftigt. Es sind wunderbare Werkzeuge. In den letzten Tagen sind mir viele Szenarios bewusst geworden, in denen ich sie nicht im Einsatz sehen möchte. Das nehme ich zum Anlass, nicht nur über Live-Video, sondern auch um über normale Fotos und Videos zu reden. Mein Wunsch, an uns Social-Media-Intensivnutzer: Lasst uns in extremen Situationen zurück in den Textmodus wechseln.
Was war positiv an der letzten Nacht in München? Auch wenn er mir zwischendrin eine Spur zu arrogant war, ist der Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins durch seine sachliche, ruhige und kompetente Art aufgefallen. Dann ist die Social-Media-Arbeit der Polizei München zu loben. Sie hat gezeigt, wie man die sozialen Netzwerke für eine konstruktive und helfende Kommunikation nutzen kann. Das sollte unser Anspruch sein.
Wir müssen nicht auf Bilder verzichten. Aber die Auswahl in in extremen Situationen können wir Redaktionen überlassen. Profis sichten mit Abstand, was Reporter einschicken, wählen aus, verzichten, ordnen ein. Seien wir mal ehrlich: All das dem gestressten Social-Media-Nutzer zu überlassen, das funktioniert einfach nicht. Auch ich habe über meinen privaten Account Fotos oder Videos weitergeleitet, die ich für vertretbar hielt. Mit etwas Abstand frage ich mich: Wo ist der Mehrwert?
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Als im Dezember 2010 Samuel Koch bei „Wetten, dass..?“ verunglückte, wurde ich vom Backstage- zum Breaking-News-Reporter. Dieser Fall hatte natürlich nicht die Tragweite, was Augenzeugen bei den jüngsten Anschlägen mitmachten, aber auch dieser Fall brachte für alle Beteiligte eine hohe emotionale Belastung mit sich. Als die TV-Übertragung abgebrochen war, blieben die TV-Zuschauer im Dunkeln. Lebt der Kandidat noch? Auf Twitter gab es viele Gerüchte und Falschmeldungen. Ich entschloss mich, aus der Halle zu informieren, um etwas gegen die Hysterie zu unternehmen. Nur Fakten, keine Gerüchte. Andere Twitter-Bekannte bestätigten meine Authentizität und so informierten sich immer mehr. In den letzten Monaten habe ich mich oft gefragt, ob ich vor sechs Jahren Periscope oder Facebook Live eingesetzt hätte? Ich bin froh, dass ich mich auf Text beschränkt habe.
Ich nehme mir auf jeden Fall vor, bei künftigen extremen Nachrichtensituation ?egal ob nah dran, oder beobachtend? auf meinen eigenen Accounts in den Textmodus zu wechseln. Es gibt Leute, die das schätzen werden und Leute, die das schätzen lernen werden und vielleicht den Textmodus auch für sich entdecken. Wir können Vorbild sein.
super Daniel! – finde ich eine klare und mutige Ansage. Diese Haltung versuchen wir gerade als „Bio-Media“ zu platzieren…umdenken vom reinen hype der neuen Möglichkeiten zurück auf das gewünschte Ergebnis. Das Diktat des „es geht – also machen wir es“ können wir jetzt langsam mal überwinden…ohne Regeln…jeder wie er meint, aber einfach emanzipieren und konsolidieren.